GRÜNENTHAL während des Prozesses
Am 27. März 1968 begann das Strafverfahren gegen Firmenmitinhaber Hermann Wirtz und acht leitende Angestellte des Unternehmens. GRÜNENTHAL sagt, es sei das „bis dahin aufwändigste Verfahren in der deutschen Rechtsgeschichte“ gewesen. Am 18. Dezember 1970 habe das Landgericht Aachen das Verfahren jedoch „mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft eingestellt.“
Was hier wie „viel Lärm um Nichts“ klingt, endet mit der durch das Landgericht Aachen rechtskräftig festgestellten Schuld der Angeklagten an der Contergan-Katastrophe.
Doch dazu später. Zunächst zum Prozess, in dem die Angeklagten und ihre Verteidiger eine eher unrühmliche Rolle gespielt haben. Von Beginn an arbeiteten sowohl Angeklagte als auch Verteidiger mit Diffamierungen, die über die üblichen Verteidigungsbemühungen deutlich hinausgingen und dem Gegenstand der Verhandlung, insbesondere aus Sicht der Opfer, nicht angemessen waren. So sprach ein Beobachter des Verfahrens von „totaler Verteidigung“. Im Laufe des Prozesses häuften sich zudem die Krankmeldungen der Angeklagten, sodass das Verfahren gegen vier der insgesamt neun Angeklagten abgetrennt werden musste. Und – so die Staatsanwaltschaft – „Krankmeldungen weiterer Angeklagter“ seien absehbar gewesen. Hinzu kam, dass aufgrund der erfolgreichen Verschleppungstaktik Verjährung drohte und dadurch der Prozess nicht mehr hätte zu Ende gebracht werden können. Nicht zuletzt sah sich das Gericht durch den Vergleich zwischen GRÜNENTHAL und den betroffenen Eltern nicht mehr in der Pflicht, zur „Sicherstellung der Schadensersatzansprüche der Betroffenen beizutragen“ (Beate Kirk).
Juristisch ist daran Folgendes bedeutsam:
Die Einstellung erfolgte aufgrund § 153 Absatz 3 der Strafprozessordnung in der damaligen Fassung. Danach durfte ein Prozess vorzeitig nur dann beendet werden, wenn zwei Bedingungen erfüllt waren:
1. Mangelndes öffentliches Interesse. Diese Voraussetzung sah das Gericht durch den Umstand als gegeben an, dass GRÜNENTHAL sich zwischenzeitlich zu einem außergerichtlichen Vergleich mit den betroffenen Familien bereit erklärt hatte.
2. Die Wahrscheinlichkeit, dass – so paradox es zunächst klingt – bei Fortsetzung des Prozesses von einem Schuldspruch der Angeklagten ausgegangen werden konnte. Bei solchen Angeklagten, bei denen der Nachweis der Schuld zweifelhaft war, kam eine vorzeitige Einstellung nicht in Betracht, weil ihnen damit ein Freispruch vorenthalten worden wäre. Für den Fall GRÜNENTHAL heißt das: Die Einstellung des Contergan-Verfahrens setzte also die Feststellung der Schuld der Angeklagten voraus.
In seinem Einstellungsbeschluss stellt das Landgericht Aachen fest:
- Der Kausalzusammenhang zwischen der Einnahme von Thalidomid und Nervenschädigungen bzw. Missbildungen gilt als erwiesen. (Diese Aussage wurde später tierexperimentell bestätigt.)
- Die Angeklagten haben wirtschaftliche Interessen über ärztliche Gesichtspunkte gestellt.
- Das Verhalten der für das Unternehmen Verantwortlichen war fahrlässig. Es habe nicht den Anforderungen entsprochen, „wie sie an einen ordentlichen und gewissenhaften Arzneimittelhersteller zu stellen sind.“