GRÜNENTHAL während der Contergan-Katastrophe
GRÜNENTHAL schreibt zu dem Umstand, das Mittel bis Ende 1961 im Markt belassen zu haben: „Zu Contergan wurden in den folgenden Jahren zwei verschiedene Nebenwirkungen gemeldet: Zum einen handelte es sich um Nervenreizungen an Händen und Füßen, am Anfang häufig bei älteren Menschen (so genannte Polyneuritis). Die ersten Hinweise hierzu erhielt GRÜNENTHAL im Oktober 1959. Nach Prüfung und Verifizierung der Nebenwirkung änderte GRÜNENTHAL 1961 die Gebrauchsinformation und beantragte im Mai 1961 die Rezeptpflicht für Contergan. Zum anderen äußerte der Hamburger Kinderarzt Dr. Widukind Lenz am 16. November 1961 seinen Verdacht, dass es einen Zusammenhang zwischen einem Anstieg von Fehlbildungen bei Ungeborenen und Thalidomid gäbe. […] GRÜNENTHAL reagierte rasch und nahm das Medikament innerhalb von zwölf Tagen vom Markt.“
GRÜNENTHAL verharmlost in vielerlei Hinsicht die Nebenwirkungen von Contergan auf irreführende Weise. So handelte es sich nicht lediglich nur um die zwei Hauptnebenwirkungen (Polyneuritis und Fehlbildungen bei Neugeborenen), die nach Einnahme von Contergan eintraten, sondern um einen ganzen Kosmos an Nebenwirkungen. Hierzu gehören unter anderem Verstopfung, Kopfschmerzen, Schwindelgefühl, Mundtrockenheit, Hautausschläge und allergische Erscheinungen. Im Folgenden fokussieren wir auf die gravierendsten Folgen von Contergan: die Nervenschäden und die Missbildungen bei Neugeborenen.
a. Zum Komplex Nervenschäden
Zu den von GRÜNENTHAL so genannten und damit verniedlichten „Nervenreizungen“ ist zu sagen, dass es sich hierbei in Wirklichkeit häufig um bleibende Nervenschäden handelte, die sich in beständiger Unruhe, Reiz- und Ausfallerscheinungen an Händen und Füßen, Abschwächung der Muskelreflexe, Lähmungen sowie Schmerzen beim Gehen äußerten. Obwohl seit 1959 bekannt, verneint das Unternehmen bis Ende 1960 einen Zusammenhang zwischen der Contergan-Einnahme und den Nervenschäden. Erst im November 1960 ergänzte GRÜNENTHAL den Beipackzettel um den Zusatz, dass die „Überempfindlichkeitserscheinungen“ bei sofortiger Beendigung der Medikation wieder zurückgingen. Erneut eine Aussage wider besseres Wissen oder zumindest zweifelhaft, da die Irreversibilität der Nervenschäden zu diesem Zeitpunkt bereits wissenschaftlich diskutiert wurde. Schon hier wird deutlich, dass die Nebenwirkungen auch ohne den Themenkomplex Missbildungen so gravierend waren, dass sich die von GRÜNENTHAL behauptete „Gefahrlosigkeit“ und „Ungiftigkeit“ ad absurdum führt.
Dass Contergan alles andere als „gefahrlos“ und „ungiftig“ ist, wurde GRÜNENTHAL durch einen pharmakologischen Bericht des britischen Lizenznehmers Distillers vor Augen geführt. Bei Tierversuchen mit Thalidomid konnte erstmals eine Letaldosis (tödliche Dosis) ermittelt werden. Dieser Bericht lag GRÜNENTHAL bereits im Januar 1961 vor.
b. Zum Komplex Missbildungen bei Neugeborenen
Die Aussage, nach der GRÜNENTHAL erst durch eine Stellungnahme von Dr. Widukind Lenz im Oktober 1961 von den Missbildungen erfahren hätte, ist eindeutig falsch. Die Stellungnahme von Dr. Lenz bildet lediglich den letzten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Hinweise auf Contergan als Ursache für Missbildungen bei Neugeborenen gehen beim Unternehmen immer wieder ein. Im November 1960 – also ein Jahr vor der Intervention von Dr. Lenz – wird ein Hinweis sogar aktenkundig. Ein Apotheker wandte sich schriftlich an GRÜNENTHAL und fragte nach, ob durch die Einnahme von Contergan durch die Mutter während der Schwangerschaft Missbildungen beim ungeborenen Kind entstehen können. GRÜNENTHAL ignorierte diesen Hinweis eines pharmazeutischen Fachmanns einfach und verkauft Contergan weiter.
Seitdem gibt es eine ganze Kette von Horrormeldungen, ohne dass GRÜNENTHAL die unterschiedlichen Hinweise je ernst genommen und mit der notwendigen Sorgfalt behandelt hätte.
Selbst nach dem Telefonat von Dr. Lenz mit Forschungsleiter Dr. Mückter am 15. November 1961 sowie nach einem Einschreiben von Dr. Lenz an GRÜNENTHAL am 24. November 1961 weigerte sich GRÜNENTHAL auch weiterhin, seinen Verkaufserfolg Contergan vom Markt zu nehmen. Im Fall eines Verkaufsverbots drohte GRÜNENTHAL sogar mit einer einstweiligen Verfügung sowie einer Haftbarmachung des Düsseldorfer Innenministeriums für den möglicherweise entstehenden finanziellen Schaden.
Selbst nach der Marktrücknahme am 27. November 1961 zeigte GRÜNENTHAL keine Einsicht. Statt die Rücknahme wahrheitsgemäß mit den immer häufiger auftretenden drastischen Nebenwirkungen von Contergan wie Nervenschäden und Missbildungen zu begründen, sieht sich GRÜNENTHAL als Opfer einer „Pressecampagne“, wie der Brief an den amerikanischen Lizenznehmer Richardson-Merrel am 22. Dezember 1961 zeigt:
„Wir selbst wollten ein Rundschreiben an alle Ärzte sowie einen Hinweis im Beipackprospekt aufnehmen, dass das Präparat schwangeren Frauen nicht zu geben sei. Wir waren jedoch aufgrund der Pressecampagne in Deutschland zu der Auffassung gelangt, dass es hier besser sei, das Präparat bis zur Klärung aus dem Handel zu ziehen. Aufgrund der Unterlagen des Herrn Dr. Lenz waren wir nicht der Ansicht, dass dies absolut notwendig gewesen sei, sondern dass ein Hinweis im Beipackzettel und eine Information der Ärzte vollauf genügt hätte.“
Vergleicht man diese Ausführungen mit den rechtskräftigen Feststellungen des Landgerichts Aachen zu der Schuld der Unternehmensführer, wird der bis heute anhaltende Versuch des Unternehmens sichtbar, sich vom Täter zum Opfer zu stilisieren. War es im Rahmen der Marktrücknahme die „Campagne“ der Presse, wird heute der rechtliche Rahmen zur Zeit der Markteinführung dafür verantwortlich gemacht, dass das Unternehmen nur so und nicht anders hätte handeln können.
c. GRÜNENTHALS Kampf um den Marktverbleib von Contergan
Es dauerte also nicht nur 12 Tage, sondern über zwei Jahre nach Eingang der ersten Hinweise aus Fachkreisen auf Nerven- und Fruchtschädigungen durch Contergan, bis GRÜNENTHAL das Medikament vom Markt nahm. Wertvolle Zeit, in der viel Leid hätte verhindert werden können. GRÜNENTHAL unternahm in dieser Zeit alles, um das Medikament so lange wie möglich im Markt zu halten. Hierzu einige Beispiele:
- Im Jahre 1960 nahm die Firma GRÜNENTHAL Kontakt mit den Gesundheitsbehörden auf, um eine drohende Rezeptpflichtunterstellung von Contergan zu verhindern. Der Grund war die Furcht vor enormen Umsatzeinbußen, weil der rezeptfreie Handverkauf von Contergan in Apotheken der wesentliche Umsatzträger war.
- Im Herbst 1960 versuchte das Unternehmen, Neurologen von der Veröffentlichung ihrer Erkenntnisse über conterganbedingte Nervenschädigungen abzubringen. Gleichzeitig ermunterte GRÜNENTHAL befreundete Ärzte zur Veröffentlichung positiver Aussagen.
- Im Februar 1961 führten Vertreter von GRÜNENTHAL Gespräche mit führenden Ärzten der Universitätsnervenklinik Köln, weil dort die kritische Einstellung gegenüber Contergan wuchs. Das Unternehmen insistierte, dass es keinen Kausalzusammenhang zwischen der Einnahme von Contergan und den Nervenschädigungen gäbe, was die anwesenden Fachmediziner nicht überzeugte.
- Im März 1961 entwickelte GRÜNENTHAL die Arbeitshypothese, dass die Nervenschäden durch den Mangel an Vitamin B1 zu erklären seien. Im gleichen Monat dann die Aussage im Rahmen eines Ärztebriefes der GRÜNENTHAL, die Nervenschäden seien durch Schlafmittel- und Alkoholmissbrauch zu erklären.
Nachdem es Dr. Lenz trotz des nachdrücklichen Widerstands von GRÜNENTHAL gelang, den Ball ins Rollen zu bringen, überstürzten sich die Ereignisse:
- Am 25. November 1961 unterrichtete das Innenministerium von NRW die Gesundheitsbehörden der anderen Länder, das Bundesgesundheitsamt, das Bundesinnenministerium sowie Ärzte-, Zahnärzte- und Apothekerkammern über den Verdacht von Dr. Lenz.
- Am 26. November 1961 veröffentlichte die Zeitung „Welt am Sonntag“ einen Artikel über den Verdacht gegen Contergan mit dem Titel: „Mißgeburten durch Tabletten? Alarmierender Verdacht eines Arztes gegen ein weitverbreitetes Medikament“.
- Am 27. November 1961 nahm GRÜNENTHAL das Medikament aufgrund des massiven öffentlichen Drucks vom Markt.