GRÜNENTHAL äußert sich zur Vorgeschichte der Contergan-Katastrophe wie folgt: „1954 erhielt GRÜNENTHAL in Westdeutschland ein Patent für diese Substanz [Thalidomid]. Zu dieser Zeit waren die für die Entwicklung von Arzneimitteln vorgeschriebenen Standards völlig andere als heute. Konkrete gesetzliche Vorschriften zum Schutz der Patienten, wie sie heute gelten, gab es zum damaligen Zeitpunkt in Westdeutschland nicht. Vielmehr galt das Prinzip der Selbstüberwachung.“

Das Unternehmen beschreibt die rechtliche Situation in Deutschland zutreffend. Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Denn die rechtlichen Standards hinkten den bereits erreichten und möglichen Standards bei der pharmakologischen Prüfung von Medikamenten deutlich hinterher.

Auch die Standards der teratologischen Forschung (die Erforschung der Ursachen von Fehlbildungen bei Embryonen durch Umweltfaktoren) waren zum damaligen Zeitpunkt weit entwickelt. So war in wissenschaftlichen Fachkreisen in den fünfziger Jahren bereits bekannt, dass chemische Substanzen und Arzneimittel die Plazentaschranke überwinden und zur Schädigung des Embryos führen können. Aus diesem Grunde war es eine allgemein anerkannte Regel, dass die Abgabe auch bestens getesteter Medikamente an Frauen während der ersten drei Monate der Schwangerschaft nur bei sorgfältiger Beobachtung erfolgen soll. Diese Regel hat GRÜNENTHAL nachweisbar missachtet.

Dass Arzneimittel die Plazentaschranke überwinden können, machte man sich sogar zunutze. GRÜNENTHAL hatte seinen ersten großen Markterfolg mit der industriellen Produktion von Penicillin. Diese Substanz wurde z. B. bei an Syphilis erkrankten Schwangeren eingesetzt, weil sie neben der werdenden Mutter gleichzeitig auch das von Ansteckung bedrohte ungeborene Leben zu heilen vermochte. Aufgrund dieses Wirkzusammenhangs ging die Anklageschrift im Contergan-Strafverfahren davon aus, dass „bei der Fa. GRÜNENTHAL die Problematik einer Arzneimitteleinnahme in der Schwangerschaft bekannt war“, wie Beate Kirk, die das Standardwerk zum Contergan-Skandal verfasst hat, feststellt.

Bei Contergan handelte es sich um ein völlig neues Präparat mit einer völlig neuen chemischen Wirksubstanz. GRÜNENTHAL wäre eine entsprechende Prüfung, ob auch Thalidomid (also die Wirksubstanz in Contergan) die Plazentaschranke überwindet, vor der Markteinführung problemlos möglich gewesen. Hierfür wäre ein einfacher Versuch erforderlich gewesen, der nur wenig Zeit in Anspruch genommen hätte. Er wäre jedoch mit weiteren Kosten für GRÜNENTHAL verbunden, die offensichtlich vermieden werden sollten. Auch Beate Kirk bestätigt, dass die pharmazeutische Industrie „derartige Untersuchungen wohl vor allem aus Kostengründen nur selten“ durchführte.

GRÜNENTHAL schreibt: Der Wirkstoff Thalidomid „schien besonders gut verträglich zu sein, führte nicht zu Abhängigkeiten und war für Selbstmord ungeeignet. Der Inhalt der Werbeanzeigen für das Produkt entsprach dem Stand des damaligen Wissens aller Experten.“

Dass das Medikament besonders verträglich zu sein „schien“, war zumindest in der ersten Zeit nach Markteinführung sicherlich der allgemein vorherrschende Eindruck – nicht selten bei den Verbraucherinnen selbst. Das wurde jedoch im Laufe der Zeit deutlich anders, wie die seit 1959 zunehmenden Hinweise auf Nervenschädigungen und Missbildungen zeigen.

Der Aussage zu den Werbeaussagen des Unternehmens ist hingegen deutlich zu widersprechen. Die Werbeanzeigen sprechen von einem „gefahrlosen Medikament“. Auf dem Beipackzettel findet sich die Formulierung, das Mittel sei „völlig ungiftig“. Auch in Schreiben an Ärzte und Apotheker nutzt das Unternehmen Begriffe wie „Gefahrlosigkeit“, „völlige Ungiftigkeit“, „absolut unschädlich“.

Die Sicherheit, die diese Aussagen vermitteln, ist vollkommen irreführend. Die damaligen bis dato durchgeführten pharmakologischen und klinischen Untersuchungen hätten höchstens zu der Aussage berechtigt, dass eine giftige Wirkung auf Grundlage der durchgeführten Untersuchungen nicht beobachtbar gewesen sei. Nur: Eine solche Formulierung wäre als überzeugendes Verkaufsargument vermutlich zu vage gewesen.

Dass auch GRÜNENTHAL große Zweifel hegte, zeigt der August 1957. Zu diesem Zeitpunkt und damit zwei Monate vor Markteinführung von Contergan trat ein Mitarbeiter des damaligen Forschungsleiters von GRÜNENTHAL mit der Bitte an den Direktor der Universitätsfrauenklinik in Bonn heran, eine klinische Prüfung von Thalidomid an Schwangeren durchzuführen. Dieser Bitte wurde aus prinzipiellen Erwägungen seitens der Klinik nicht gefolgt, der Vorgang zeigt jedoch deutlich, dass GRÜNENTHAL hier eine Gefahr erkannte. Damit konnten die bestehenden Zweifel nicht ausgeräumt werden. Dennoch wirft GRÜNENTHAL das Medikament auf den Markt – mit den erwähnten, keinen Zweifel zulassenden Werbebotschaften.

Ein Jahr später, Contergan ist immer noch nicht darauf hin getestet, ob es die Plazentaschranke überwindet, bewarb GRÜNENTHAL Contergan in einem auf den 1. August 1958 datierten Schreiben an 40.245 niedergelassene Ärzte wie folgt:

„In der Schwangerschaft und Stillzeit ist der weibliche Organismus besonderen Belastungen ausgesetzt. Schlaflosigkeit, innere Unruhe und Abgespanntsein sind immer wiederkehrende Klagen. Die Verordnung eines Sedativums und Hypnoticums, das weder Mutter noch Kind schädigt, ist daher oft erforderlich. [Der Frauenarzt Augustin] Blasiu hat auf einer gynäkologischen Abteilung und in der geburtshilflichen Praxis einer Vielzahl von Patienten Contergan und Contergan forte verabreicht.“

Eine Lüge? Dr. Augustin Blasiu hat später erklärt, Thalidomid niemals an Schwangere verabreicht zu haben und erfuhr erst im Jahre 1964 von der für ihn ungeheuerlichen Aussage GRÜNENTHALS.

Fazit: Ohne Contergan dahingehend erforscht zu haben, ob dieses völlig neue Arzneimittel die Plazentaschranke überwindet oder nicht, bewarb GRÜNENTHAL ihr Produkt Contergan als – auch während der Schwangerschaft – völlig harmlos, ungiftig und unschädlich.

Für Laien, also die Endverbraucher, war Contergan und Contergan forte mindestens bis 31. Juli 1961 weiterhin rezeptfrei in Apotheken erhältlich, in einigen Bundesländern sogar noch bis zu der Marktrücknahme im November 1961.

Erst nachdem GRÜNENTHAL sich vor der Marktrücknahme erneut mit dem durch Professor Dr. Lenz geäußerten Vorwurf konfrontiert sieht, Contergan habe Missbildungen bei Neugeborenen hervorgerufen, führt das Unternehmen endlich den dringend notwendigen Tierversuch durch.

Das Resultat:
„Die Ergebnisse zeigen, dass Thalidomid bei Maus und Ratte unter den gewählten Versuchsbedingungen die Plazentaschranken durchdringt.“
Dr. R. Beckmann, damaliger Leiter der biochemischen und Isotopen-Abteilung der GRÜNENTHAL